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Titel
Freunde und Verwandte. Soziale Beziehungen in einer spätmittelalterlichen Stadt


Autor(en)
Seidel, Kerstin
Reihe
Campus Historische Studien 49
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Oschema, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die Einsicht, dass das soziale und politische Zusammenleben der Gesellschaften des europäischen Mittelalters stark durch personale Bindungen geregelt war, gehört seit längerem zum festen Bestand der Lehrmeinungen. Wenig Dissens besteht auch hinsichtlich der wichtigsten Pole, welche die Systematik der Bindungsgeflechte bestimmten und die für die frühe Zeit auf die griffige Formel „Verwandte, Freunde und Getreue“ gebracht wurden. Dennoch sind zentrale Fragen zum Verhältnis, zur Funktion und zum Zusammenspiel der hiermit angesprochenen Kategorien noch offen. Kerstin Seidel baut in ihrer Dissertation gekonnt und umsichtig auf dem aktuellen Stand der Diskussion auf und bietet einen kontrastierenden Vergleich der Beziehungstypen Freundschaft und Verwandtschaft. Im Schnittfeld begriffs-, sozial- und institutionengeschichtlicher Ansätze fragt sie unter anderem, inwiefern die beiden Kategorien eigenständige Ordnungen repräsentieren (oder die „Freundschaft“ sich nicht vielmehr als Unterkategorie der Verwandtschaft etablierte) und wie sie sich hinsichtlich ihrer relativen Bedeutung zueinander verhalten. Das Material zur Beantwortung gewinnt sie dabei aus der Überlieferung der spätmittelalterlichen Stadt Köln.

Dem Anlageprinzip entsprechend lassen sich die sechs Abschnitte der Studie in zwei Teile zusammenfassen: Die ersten drei Kapitel widmen sich mit dem Kölner Ratsschriftgut, den Testamenten und einer Reihe von „Selbstzeugnissen“ der Sichtung und Darstellung der Befunde aus dem Material. Die folgenden drei Kapitel bieten dann eine stärker theoriegeleitete, systematische Deutung, die zunächst die „Semantik sozialer Beziehungen“ im Spannungsfeld von Freundschaft und Verwandtschaft aufzeigt. Analytisch getrennt arbeitet Seidel dann die Normen und Konfliktpotentiale der verwandtschaftlichen Bindungen sowie schließlich die Bedeutung und Grenzen der Freundschaft heraus. Als Grundbefund ergibt sich eine klare Vorrangstellung der Verwandtschaft für die Regelung des sozialen und wirtschaftlichen Miteinanders der Kölner Bürger: Die normativen Vorgaben des Rates weisen den Kosmos der Verwandtschaft ebenso als privilegiertes Beziehungssystem aus wie die Grablegewünsche und testamentarischen Vergabungen. Auch in den Familienbüchern zeichnet sich diese Priorität ab, sei es in den knappen Verweisen in den Aufzeichnungen Johann Slosgins, im Buch des Werner Overstolz oder in der monumentalen (und zum Teil frei konstruierten) familiengeschichtlichen Überlieferung, die wir Hermann von Weinsberg verdanken. Trotz der divergenten schreiberischen Praxis und Ausrichtung der Werke stehen in jedem Fall verwandtschaftliche Bindungen im Vordergrund, während der Typus „Freundschaft“ kaum jemals aufscheint.

Wie auch die theoretisch ausgerichteten Einschübe der Autorin deutlich machen, ist dieses Bild allerdings durch eine Reihe einschränkender Bedenken zu präzisieren: Grundlegend ist zunächst der Hinweis auf den Konstruktionscharakter der „Verwandtschaft“. Zu Recht unterstreicht Seidel mit Bezug auf historische wie auf sozialanthropologische und verhaltensbiologische Untersuchungen (207-213, 235-238), dass die Verwandtschaft nicht als biologistisches Grundgerüst gesellschaftlicher Ordnung interpretiert werden kann. Vielmehr bedürfen die kulturell bestimmten Parameter im Spannungsfeld von „biologischer“, „künstlicher“ und „spiritueller“ Verwandtschaft (236f.) für jede Gesellschaft einer detaillierten Untersuchung. Dabei wäre noch im Detail zu diskutieren, wie tragfähig die Ergebnisübertragung von Untersuchungen zur Soziabilität von Mäusen (236) oder Menschenaffen (284) auf die Analyse menschlicher Gesellschaften letzten Endes ist – unstrittig dürfte dagegen der Nutzen einschlägiger Beobachtungen für die Verhinderung unangebrachter Biologismen in der historischen Forschung sein. Zentral erscheinen letztlich nicht die objektiv feststellbare Verwandtschaft an sich, sondern Beziehungen, die als „positive Kommunikationsverhältnisse“ zu fassen sind (120).

Auch die Natur des Materials mahnt zur vorsichtigen Interpretation, da das Quellenkorpus zu weiten Teilen den Blick auf die Verwandten privilegiert: Die Zahl der „Selbstzeugnisse“ hält sich im untersuchten Umfeld ebenso in engen Grenzen wie die Menge der zur Verfügung stehenden privaten Korrespondenz. Dagegen ist nachzuvollziehen, dass obrigkeitliche Vorgaben oder die testamentarische Regelung der Besitzweitergabe nach dem Tod den stark formalisierten und normativ gefassten Bindungstypus der Verwandtschaft bevorzugt in den Blick nehmen. Zum dritten ist schließlich auf die Verortung des Untersuchungsgegenstands hinzuweisen, die Seidels Studie besonderen Wert verleiht: Viele der thematisch einschlägigen Arbeiten konzentrierten sich bislang auf die Welt des Adels, während das urbane Milieu – sieht man von wenigen, aber wichtigen Ausnahmen ab 1 – vorwiegend am Beispiel von Städten südlich der Alpen analysiert wurde. Mit Blick auf beide Richtungen des Vergleichs, sozial wie geographisch, bietet Seidel daher eine wichtige Erweiterung unseres Wissens, regt zugleich aber auch zu Fragen an: Bildet der Vorrang der Verwandtschaft eine städtische Besonderheit im Vergleich mit einer Adelskultur, die sich stärker auch auf das Freundschaftsideal bezog? Oder stehen kulturelle Unterschiede über geographische und sprachliche Grenzen hinweg im Vordergrund, so dass die Verhältnisse in den deutschsprachigen Gebieten mit der Romania zu kontrastieren sind? Dies legt etwa die Kölner Praxis der Patenschaft nahe, die sich markant von jener der italienischen Kommunen unterscheidet, da sie vor allem auf die Festigung bestehender „künstlicher“ Verwandtschaften abzielt (268-274, mit dem Hinweis, dass eine Rekonstruktion vollständiger „Gevatterschaftsnetze“ in Köln aufgrund der Quellenlage nicht möglich sei).

Insgesamt versteht sich die Autorin hervorragend darauf, ihr Material detailorientiert zu vermitteln und in souverän verknappender Bezugnahme auf aktuelle Forschungsdebatten und Theorieangebote zu prononcierten Urteilen zu kommen. Im Sinne der Einschränkungen, die sich durch den gewählten Beispielfall Köln ergeben, wünschte man sich allerdings hin und wieder einen stärkeren vergleichenden Blick, der die Besonderheit des Gegenstands akzentuieren könnte: Wo für Köln gilt, dass ein Begräbnis „an der Seite eines Freundes [...] nicht einmal denkbar“ (80) war, trifft ebendies unter anderem auf zwei englische Ritter jener Zeit nicht zu, deren Exempel Alan Bray jüngst detailliert analysierte.2 Unterscheiden sich hier die nationalen Kulturen oder die Usancen verschiedener sozialer Schichten? An anderer Stelle erfährt der Leser von mehreren Konflikten zwischen Onkeln und Neffen (267f.) – und fragt sich nach den Gründen für die erkennbare Differenz zum adligen Milieu und der höfischen Literatur, für die jene Konstellation von herausragender Bedeutung war. Darüber hinaus scheint die Autorin an einigen Stellen die Verwandtschaft etwas stark zu präferieren und im Gegenzug die Konfliktpotentiale und tatsächlichen Konflikte in den Hintergrund zu stellen: Dies gilt etwa für die knappe Charakteristik der Brüderbeziehung, die „idealiter [...] auf absoluter Statusgleichheit beruhte“ (275). Jenes Ideal lässt sich durchaus hinterfragen, da sich stets auch ein Alters- und damit Hierarchieunterschied feststellen ließ, der in anderen Zusammenhängen eben in der Forderung nach der „Freundschaft“ der Verwandten aufgehoben werden konnte. Ähnliche Skepsis ist auch bei Seidels exemplarischer Vorführung des Versagens eines sozialen Netzwerks am Beispiel des Kaufmanns Hildebrand Veckinchusen angebracht. Obschon sie selbst auf die Rolle des „Freundes“ Tidemann Brekelvelde verweist, der Hildebrand in dessen finanzieller Bedrängnis beistand, stellt die Autorin dennoch klar die Verwandtschaft als den an sich effizienteren Bindungstypus heraus, wenngleich Hildebrands Bruder seinen Pflichten an keiner Stelle nachkam. Letztlich illustriert dieser Fall, wie auch andere Beispiele, welche die Autorin vorführt, dass man Freundschaft und Verwandtschaft vielleicht analytisch trennen mag, ihre soziale Dynamik in der Praxis aber nur als Gesamtkomplex zu erfassen ist.3

Dies sind aber die Fragen und Anmerkungen eines Rezensenten, der sich in dieser Forschungsfrage nicht als „neutral“ betrachten kann. Sie drücken daher weniger Kritik aus, sondern stellen vielmehr einen Beleg dafür dar, dass Seidels klar strukturierte, gekonnt auf einen präzisen Gegenstand zugeschnittene und angenehm jargonfreie Arbeit in der Sache unmittelbar zum Nachdenken und zur weiteren Diskussion anregt.

Anmerkungen:
1 Vgl. stellvertretend Simon Teuscher, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln/Weimar/Wien 1997.
2 Alan Bray, The Friend, Chicago/London 2003, S. 13-19.
3 Vgl. vor allem die Beiträge von Klaus van Eickels, u. a. Ders., Freundschaft im (spät)mittelalterlichen Europa: Traditionen, Befunde und Perspektiven, in: Freundschaft oder „amitié“? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.-17. Jahrhundert), hg. v. Klaus Oschema, Berlin 2007, S. 23-34.